«2022 war absolut aussergewöhnlich»
Matthias Huss ist der oberste Gletschervermesser der Schweiz. 2022 erlebte er ein Extremjahr: Die Eisschmelze und das Medieninteresse verzeichneten ein Allzeithoch. Die hochaktuellen Messungen erfolgen teils mit den gleichen Methoden wie vor hundert Jahren.
Die Schweizer Gletscher-Messreihen sind die längsten der Welt. Die Position mancher Gletscherzunge wird seit 140 Jahren ununterbrochen gemessen, die Schneemenge und Eisschmelze seit mehr als hundert Jahren. Seit 2016 bin ich für diese Messungen verantwortlich. Die Qualität auch der ältesten Daten ist sehr gut, und es ist für mich eindrücklich, diese Tradition fortführen zu dürfen. Wir verwenden teilweise immer noch die gleichen Methoden wie damals. Einerseits, damit die Daten konsistent bleiben. Anderseits, weil auch modernste Messtechnik bis heute nicht alle Informationen liefern kann.
Wir sind aber viel effizienter geworden. Früher hat man für die Massenbilanz grosser Gletscher Wochen aufgewendet. Heute schaffen wir selbst den Aletschgletscher zu zweit an einem Tag. Die Volumenbilanz wird mit langen Stangen gemessen, die man im Herbst mehrere Meter ins Eis bohrt. Ein Jahr später ragt die Stange dann meist weit aus dem Gletscher heraus, und so kann man ablesen, wieviel Eis geschmolzen ist.
In der Regel verbringe ich etwa zwanzig Tage im Jahr auf Gletschern. Auch wenn diese Messungen etwas Repetitives haben, ist mir der direkte Kontakt zu meinen Forschungsobjekten wichtig. Manche Wege bin ich bestimmt schon fünfzig Mal gegangen. Das ist aber auch eindrücklich, denn so erlebe ich, was sich verändert.
Letztes Jahr war ich noch öfter auf Gletschern als sonst: Das Eis schmolz derart rasch, dass wir schon im Sommer vielerorts die Stangen neu justieren mussten. Am Konkordiaplatz auf dem Aletschgletscher sind sechs Meter Eis geschmolzen. Ein Foto von der weit herausragenden Messstange machte auf Twitter Furore. Das Medieninteresse an der Gletscherschmelze war enorm, auch aus Übersee.
2022 hatten wir bei den Schweizer Gletschern einen Volumenverlust von sechs Prozent. Das ist absolut aussergewöhnlich, verglichen mit den Zahlen der letzten hundert Jahre. Die Modellierung der künftigen Gletscherentwicklung ist der zweite und anspruchsvollere Teil meiner Arbeit. Wenn wir das Pariser Abkommen einhalten und sich die Temperaturen nach 2050 stabilisieren, dürfte etwa ein Drittel des Schweizer Gletschereises erhalten bleiben. Die Zunge des Aletschgletschers würde noch etwa bis zum Konkordiaplatz reichen. Bei ungebremster Erwärmung verschwindet bis 2100 das ganze Eis der Alpen, bis auf wenige Reste oberhalb von 4000 Metern.
Die lange zurückreichenden Messungen der Gletscher sind überaus wichtig, um den dramatischen Wandel des Klimas zu verstehen, den wir Menschen verursachen. Die Wissenschaft braucht die Zahlen für ihre Modelle. Der sichtbare Rückgang der Eisriesen berührt aber auch viele Menschen direkt – als ein immer stärker blinkendes Warnsignal des Klimawandels.
Ich verstehe mich nicht als Aktivist. Ich versuche bloss, die Resultate unserer Messungen und Studien zu vermitteln und in einen Kontext zu stellen. Trotzdem trifft mich die Gletscherschmelze auch persönlich. So mussten wir letztes Jahr die Messungen am Pizolgletscher einstellen, weil er buchstäblich weggeschmolzen war. Am Pizolgletscher hatte ich 2006 noch als Student meine ersten Messungen gemacht, und die erste Liebe ist doch immer etwas Besonderes. Im September 2022 war ich noch einmal oben, um die letzte Messstange zu holen und Abschied zu nehmen.
—
Matthias Huss ist Gletscherforscher und arbeitet in der Glaziologie-Gruppe an der WSL Birmensdorf und der ETH Zürich sowie an der Universität Freiburg. Seit 2016 leitet er ausserdem das Schweizer Gletschermessnetz GLAMOS, das im Rahmen der Kommission für Kryosphärenbeobachtung der SCNAT von der ETH Zürich und den Universitäten Freiburg und Zürich betrieben wird. GLAMOS wird vom Bundesamt für Umwelt, von Meteo-Schweiz, von swisstopo und von der SCNAT finanziert. 2022 erschien Huss erstmals auf der globalen Liste der «Highly Cited Researchers».
Der Text ist im Jahresbericht 2022 der Akademien der Wissenschaften Schweiz erschienen.
Kontakt
Dr. Matthias Huss
ETH Zürich
Departement Bau, Umwelt und Geomatik (D-BAUG)
Versuchsanstalt für Wasser, Hydrologie und Glaziologie (VAW)
Hönggerbergring 26
8093 Zürich